Kontext

Kulturkampf um die Vergangenheit: Erinnerungspolitische Kontexte

Nicht nur in der Bundesrepublik gewinnt die Vergangenheit seit den späten 1970er Jahren an Bedeutung. Im Zeichen des beginnenden Memory Booms werden »Erinnerung« und »Identität« zunehmend zu zentralen Themen der politischen Auseinandersetzung.

Gezeichnete Darstellung: Zwei Männer betrachten gemeinsam eine Gedenktafel.

Deutsche Nationalgeschichte als »geistige Heimat«?

In der Bundesrepublik endet 1982 eine 13-jährige Periode sozialliberaler Regierungen. Der neue Kanzler Helmut Kohl (CDU) bemängelt eine »Verunsicherung im Verhältnis zu unserer Geschichte«: »Der jungen Generation muss die deutsche Geschichte [...] wieder eine geistige Heimat werden.« Zu diesem Zweck sollen sowohl in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn als auch in West-Berlin nationale Geschichtsmuseen eingerichtet werden.

Zeichnung mit drei Gesichtern, darüber der Schriftzug „Holocaust“. In der Mitte eine Frau mit gelbem Stern auf der Kleidung, rechts ein Mann in SS-Uniform. Die Darstellung erinnert an ein Filmplakat.

Kontroversen um die nationalsozialistische Vergangenheit

Seit den 1960er Jahren wird in der Bundesrepublik zunehmend über den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit diskutiert. Ehemals Verfolgte, aber auch Linke und Linksliberale, fordern angesichts der begangenen Verbrechen eine kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte. Konservativen ist das ein Dorn im Auge. Sie streiten für eine positive nationale Identität. Die 1980er Jahre sind daher von scharfen Debatten über deutsche Geschichte und Identität geprägt.

Zeichnung eines Magazin-Covers: Oben steht „MOZ – Hohenschönhauser Zeitung“, darunter groß „Geschichtswerkstatt“. In der Mitte ein schräg gesetztes Plakat mit der Aufschrift „Geschichtsfest ’84 in Berlin“. Zeichnung eines Buchcovers, das ein Porträt eines Mannes über einer Industrieanlage zeigt. Darüber der schwedische Titel „Gräv där du står“ und der Name „Sven Lindqvist“. Zeichnung einer Fassade mit der Aufschrift „Hier stand mal ein Konzentrationslager“, umgeben von Büschen.

Die neue Geschichts- und Gedenkstättenbewegung

Die Debatten werden auch im öffentlichen Raum ausgetragen. Seit den späten 1970er Jahren entwickelt sich ein Geschichtsaktivismus, der sich gegen die traditionelle Geschichtsschreibung und -vermittlung richtet. Unter dem Motto »Grabe, wo du stehst!« entstehen vielerorts Geschichtswerkstätten, die Geschichte vor Ort und »von unten« erschließen. Gedenkstätteninitiativen kämpfen dafür, dass Tatorte der nationalsozialistischen Verbrechen markiert und in dauerhafte Lernorte umgewandelt werden.

Gezeichnetes Plakat mit dem Titel „Machtübergabe und Widerstand“. Programm zu Ausstellungen und Veranstaltungen 1983. Zeichnung: Eine Gruppe von Personen vor einem Schaufenster mit der Aufschrift „Berliner Geschichtswerkstatt“. Zeichnung von Personen mit Banner „Wir brauchen ein aktives Museum“ und durchgestrichenem Hakenkreuz.

Der 50. Jahrestag der nationalsozialistischen Machtübernahme

1983 erreicht dieser Geschichtsaktivismus einen Höhepunkt. Rund um den 50. Jahrestag der nationalsozialistischen Machtübernahme finden bundesweit Ausstellungen, Veranstaltungen und Aktionen statt. Ein Schwerpunkt liegt in West-Berlin. Dort engagieren sich neben der Berliner Geschichtswerkstatt zahlreiche weitere Initiativen und Institutionen. Aus diesem Zusammenhang heraus gründet sich das Aktive Museum Faschismus und Widerstand in Berlin.

Zeichnung: Zwei Männer gehen an einem Kreuz und Blumen vorbei.

Helmut Kohl und die nationalsozialistische Vergangenheit

1984 betont Kanzler Kohl in Israel seine Unschuld an den nationalsozialistischen Verbrechen, indem er sich auf eine »Gnade der späten Geburt« beruft. Für den 5. Mai 1985 lädt er US-Präsident Ronald Reagan zu einer Versöhnungsgeste auf den Soldatenfriedhof in Bitburg ein, wo auch Angehörige der Waffen-SS bestattet sind. Eine kritische Öffentlichkeit wirft Kohl vor, einen »Schlussstrich« unter die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ziehen zu wollen.

Zeichnung einer Gedenkbriefmarke von 1988 zum 9. November 1938 mit dem Text: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“

Ein neues erinnerungspolitisches Leitbild: Die Weizsäcker-Rede

In seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes will Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU) die Wogen glätten. Er mahnt zur Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen und bezeichnet den 8. Mai 1945 als »Tag der Befreiung«. Zugleich beschreibt er die letzten vierzig Jahre als demokratische Erfolgsgeschichte und versöhnt so die negative Erinnerung mit dem Wunsch nach einer positiven nationalen Identität: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein weltweit geachteter Staat geworden.«

Zeichnung: Menschen sitzen und liegen auf den Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin. Zeichnung: Demonstrierende vor dem Brandenburger Tor mit einem Banner „Stoppt das Mahnmal!“ und vielen Fahnen.

Nach 1985: Entwicklung einer staatlich geförderten Gedenkstättenlandschaft

Die Weizsäcker-Rede erregt großes Aufsehen und findet im In- und Ausland viel Zuspruch. Das darin formulierte erinnerungspolitische Leitbild kann sich langfristig durchsetzen. In den 1990er Jahren entsteht in der Bundesrepublik eine staatlich institutionalisierte Gedenkstättenlandschaft, die an die nationalsozialistischen Verbrechen erinnert. Mit dem Erstarken der extremen Rechten seit den 2010er Jahren gerät diese Erinnerungskultur allerdings wieder in Gefahr.

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