Nicht nur in der Bundesrepublik gewinnt die Vergangenheit seit den späten 1970er Jahren an Bedeutung. Im Zeichen des beginnenden Memory Booms werden »Erinnerung« und »Identität« zunehmend zu zentralen Themen der politischen Auseinandersetzung.
In der Bundesrepublik endet 1982 eine 13-jährige Periode sozialliberaler Regierungen. Der neue Kanzler Helmut Kohl (CDU) bemängelt eine »Verunsicherung im Verhältnis zu unserer Geschichte«: »Der jungen Generation muss die deutsche Geschichte [...] wieder eine geistige Heimat werden.« Zu diesem Zweck sollen sowohl in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn als auch in West-Berlin nationale Geschichtsmuseen eingerichtet werden.
Seit den 1960er Jahren wird in der Bundesrepublik zunehmend über den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit diskutiert. Ehemals Verfolgte, aber auch Linke und Linksliberale, fordern angesichts der begangenen Verbrechen eine kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte. Konservativen ist das ein Dorn im Auge. Sie streiten für eine positive nationale Identität. Die 1980er Jahre sind daher von scharfen Debatten über deutsche Geschichte und Identität geprägt.
Die Debatten werden auch im öffentlichen Raum ausgetragen. Seit den späten 1970er Jahren entwickelt sich ein Geschichtsaktivismus, der sich gegen die traditionelle Geschichtsschreibung und -vermittlung richtet. Unter dem Motto »Grabe, wo du stehst!« entstehen vielerorts Geschichtswerkstätten, die Geschichte vor Ort und »von unten« erschließen. Gedenkstätteninitiativen kämpfen dafür, dass Tatorte der nationalsozialistischen Verbrechen markiert und in dauerhafte Lernorte umgewandelt werden.
1983 erreicht dieser Geschichtsaktivismus einen Höhepunkt. Rund um den 50. Jahrestag der nationalsozialistischen Machtübernahme finden bundesweit Ausstellungen, Veranstaltungen und Aktionen statt. Ein Schwerpunkt liegt in West-Berlin. Dort engagieren sich neben der Berliner Geschichtswerkstatt zahlreiche weitere Initiativen und Institutionen. Aus diesem Zusammenhang heraus gründet sich das Aktive Museum Faschismus und Widerstand in Berlin.
1984 betont Kanzler Kohl in Israel seine Unschuld an den nationalsozialistischen Verbrechen, indem er sich auf eine »Gnade der späten Geburt« beruft. Für den 5. Mai 1985 lädt er US-Präsident Ronald Reagan zu einer Versöhnungsgeste auf den Soldatenfriedhof in Bitburg ein, wo auch Angehörige der Waffen-SS bestattet sind. Eine kritische Öffentlichkeit wirft Kohl vor, einen »Schlussstrich« unter die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ziehen zu wollen.
In seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes will Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU) die Wogen glätten. Er mahnt zur Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen und bezeichnet den 8. Mai 1945 als »Tag der Befreiung«. Zugleich beschreibt er die letzten vierzig Jahre als demokratische Erfolgsgeschichte und versöhnt so die negative Erinnerung mit dem Wunsch nach einer positiven nationalen Identität: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein weltweit geachteter Staat geworden.«
Die Weizsäcker-Rede erregt großes Aufsehen und findet im In- und Ausland viel Zuspruch. Das darin formulierte erinnerungspolitische Leitbild kann sich langfristig durchsetzen. In den 1990er Jahren entsteht in der Bundesrepublik eine staatlich institutionalisierte Gedenkstättenlandschaft, die an die nationalsozialistischen Verbrechen erinnert. Mit dem Erstarken der extremen Rechten seit den 2010er Jahren gerät diese Erinnerungskultur allerdings wieder in Gefahr.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Politik auf eine bessere Zukunft ausgerichtet. Doch in den 1970er Jahren gerät der Fortschrittsglaube in die Krise. An die Stelle von Zukunftsentwürfen tritt zunehmend eine intensive Beschäftigung mit der Vergangenheit.
Die 1970er und 1980er Jahre sind eine Zeit tiefgreifender wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen. Vor allem in den Industrieländern verlieren die gesellschaftlichen Verhältnisse an Stabilität. Die Grenzen von Wachstum und Modernisierung werden zum Thema. Der optimistische Blick in die Zukunft geht verloren. Das »kulturelle Erbe« gewinnt rapide an Bedeutung. Politische Visionen werden nun immer öfter mit bestimmten Lesarten von Vergangenheit begründet.
Geschichte wird damit zu einem wichtigen Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Unterschiedliche Akteur:innen leiten ihr jeweiliges politisches Selbstverständnis aus unterschiedlichen Interpretationen von Vergangenheit ab. »Identität« und »Erinnerung« entwickeln sich weltweit zu zentralen Schlagworten in politischen Kämpfen. Es entstehen immer neue historische Ausstellungen und Museen. Auch der öffentliche Raum wird zunehmend historisch markiert.
Nach seinem Amtsantritt kündigt Bundeskanzler Helmut Kohl die Errichtung von zwei nationalen Geschichtsmuseen an. Eine kritische Öffentlichkeit stellt sich gegen diese Pläne: Das bundesrepublikanische Geschichtsbild soll nicht »von oben« verordnet werden.
Für die damalige Bundeshauptstadt Bonn plant Kohl ein Museum, das sich mit deutscher Geschichte seit 1945 beschäftigt. In West-Berlin soll zur 750-Jahr-Feier Berlins 1987 ein Deutsches Historisches Museum entstehen. Damit soll auch ein ideologischer Gegenpol zum Museum für Deutsche Geschichte in Ost-Berlin geschaffen werden. Deutsche Geschichte wird dort als Geschichte von Klassenkämpfen dargestellt, die in der DDR ihr glückliches Ende gefunden hat.
Kohls Museumspläne werden kontrovers diskutiert. Gegner:innen sehen darin einen Angriff auf den zeitgenössischen Geschichtsaktivismus »von unten«. Sie befürchten, dass mit staatlichen Mitteln ein konservatives Geschichtsbild festgeschrieben werden soll. Immer wieder führen sie auch ins Feld, dass viel Geld für prestigeträchtige Geschichtsmuseen ausgegeben werden soll, während Lern- und Gedenkorte zur Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen nicht finanziert werden.
Der Grundstein für das Deutsche Historische Museum wird im Oktober 1987 gelegt. Die Veranstaltung wird von Protesten aus der linksalternativen Szene begleitet. Der neue Museumsbau soll unweit des Reichstagsgebäudes entstehen. Doch dazu kommt es nicht mehr: Nach der Vereinigung 1990 zieht das Museum in das Zeughaus Unter den Linden, das bisher das Museum für Deutsche Geschichte der DDR beherbergt hat. In Bonn wird 1994 das Haus der Geschichte eröffnet.
Illustration: Der Regierende Bürgermeister West-Berlins Eberhard Diepgen (l.) und Bundeskanzler Helmut Kohl (r.) bei der Grundsteinlegung für das Deutsche Historische Museum, 1987
Der Umgang der bundesrepublikanischen Gesellschaft mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit wird in den 1980er Jahren zum Dauerpolitikum. Damit verbunden ist immer auch die Frage nach einer deutschen Identität nach Auschwitz.
In der Bundesrepublik wird seit jeher über die Bedeutung des Nationalsozialismus für die deutsche Geschichte und Identität gestritten: Während die einen darin nur eine Art »Betriebsunfall« sehen, bedeutet er für die anderen einen radikalen »Bruch«, der zu einer anhaltend kritischen Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte und Gegenwart mahnt.
Ende der 1970er Jahre wird die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen konkreter. Ein Meilenstein ist 1979 die Ausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie »Holocaust«. Entlang des fiktiven Schicksals einer deutsch-jüdischen Familie wird darin die Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden von 1933 bis 1945 nachvollzogen. Die Serie erzielt hohe Einschaltquoten und wird von einer intensiven Medienberichterstattung begleitet.
Konservative sehen diese Entwicklung äußerst kritisch. Viele deuten sie als Anzeichen für eine Krise der nationalen Identität, der ein positives Geschichtsbild entgegengesetzt werden müsse. Die erinnerungspolitischen Fronten spitzen sich zu. 1986 entspinnt sich der sogenannte Historikerstreit, in dem bekannte Intellektuelle darüber diskutieren, welchen Stellenwert die nationalsozialistische Vergangenheit im deutschen Geschichts- und Selbstverständnis haben soll.
Illustration: Plakat zur vierteiligen US-amerikanischen TV-Serie »Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss« aus dem Jahr 1978 von Marvin J. Chomsky.
Unter dem Titel »Grabe, wo du stehst« veröffentlicht der schwedische Schriftsteller und Sachbuchautor Sven Lindqvist 1978 ein »Handbuch zur Erforschung der eigenen Geschichte«. Damit prägt er einen viel zitierten Slogan der neuen Geschichtsbewegung.
Lindqvist ruft Arbeiter:innen dazu auf, ihre eigene Geschichte zu erforschen. Die Deutungsmacht soll nicht den Unternehmer:innen überlassen, sondern von den Arbeiter:innen selbst übernommen werden. Sie sollen sich als historische Akteur:innen verstehen lernen, die bereits viele Kämpfe ausgefochten haben und ihre Arbeits- und Lebensbedingungen auch in der Gegenwart selbst gestalten können. Die Forschung soll im eigenen Betrieb beginnen.
In Lindqvists Ansatz zeigt sich das Grundmotiv der neuen Geschichtsbewegung: Geschichte soll nicht mehr nur von den »Herrschenden« geschrieben werden. Die »kleinen Leute« sollen sich als historische Subjekte entdecken, die »Geschichte machen« können. Und zwar in einem doppelten Sinne: Als Autor:innen ihrer eigenen Geschichtsschreibung und als historische Akteur:innen, die aus ihrer Geschichte heraus auch ihre Gegenwart und Zukunft gestalten können.
Illustration: »Gräv där du står« – Cover der schwedischen Originalausgabe, 1978
Seit Mitte der 1970er Jahre entstehen vor allem in Europa und den USA zunehmend Bürgerinitiativen, die sich mit der Vergangenheit ihrer unmittelbaren Lebenswelt beschäftigen. Auch in der Bundesrepublik gründen sich vielerorts Geschichtswerkstätten.
Ende der 1960er Jahre veranstaltet der marxistische Historiker Raphael Samuel in Großbritannien den ersten »History Workshop«. Daraus entwickelt sich eine soziale Bewegung. Die Geschichtsschreibung soll demokratisiert werden. Alle sollen historische Forschung betreiben können. Aus einer herrschaftskritischen Perspektive heraus soll es dabei vor allem um diejenigen gehen, die bisher kaum vorkommen: Arbeiter:innen, Frauen, allerart marginalisierte Gruppen und gesellschaftliche Minderheiten.
Für die Bundesrepublik beschreibt DER SPIEGEL 1983 eine »neue Geschichtsbewegung«: Nicht nur in den Großstädten gebe es mittlerweile zahlreiche Initiativen, die sich Geschichte »von unten« aneignen. Laut SPIEGEL versuchen die Beteiligten, »sich zugleich mit der eigenen Geschichte der eigenen Identität zu versichern.« Ihre Erkenntnisse bringen sie in selbstgemachten Ausstellungen, Veranstaltungen und Publikationen an eine breite Öffentlichkeit.
Vor allem die jüngere Generation interessiert sich besonders für die Zeit des Nationalsozialismus. Überall im Land beginnen Bürger:innen, dessen Lokal- und Alltagsgeschichte zu erforschen. Dabei werden ganz bestimmte Orte, Menschen und Taten benannt. Die nationalsozialistische Herrschaft und ihre Nachgeschichte werden auf diese Weise radikal konkretisiert. Auch wenn eine Mehrheit über diese Vergangenheit weiterhin lieber schweigen möchte, gibt es dahinter kein Zurück mehr.
Illustration: Titel der Sonderausgabe der Zeitschrift Moderne Zeiten Extra von April 1984 zum Geschichtsfest
In der Bundesrepublik werden nationalsozialistische Tatorte zumeist weiter genutzt oder neu bebaut. Oft entstehen dort auch Grünflächen. In den 1970er Jahren entwickelt sich eine Gedenkstättenbewegung. Sie fordert, dort Lern- und Gedenkorte einzurichten.
Nach 1945 engagieren sich fast ausnahmslos ehemals Verfolgte aus dem In- und Ausland für Gedenkstätten an Orten nationalsozialistischer Verbrechen. Die bundesrepublikanische Mehrheitsgesellschaft will daran nicht erinnert werden. Das ändert sich im Laufe der 1970er Jahre: Auch unter dem Eindruck des zunehmenden Neonazismus skandalisieren insbesondere junge Menschen die »unbewältigte Vergangenheit« und begeben sich auf Spurensuche.
In Hamburg veranstaltet der Landesjugendring seit 1978 Alternative Stadtrundfahrten, die bald rege nachgefragt werden. Gemeinsam mit ehemals Verfolgten werden nationalsozialistische Tatorte im gesamten Stadtgebiet angefahren. Ähnliche Projekte entstehen auch andernorts. Auf diese Weise werden Orte nationalsozialistischer Verbrechen flächendeckend sichtbar gemacht. Stets wird dabei auch das bisherige »Verschwindenlassen« dieser Orte angeprangert.
In den kommenden Jahren werden viele Orte mit Denkmälern und Gedenktafeln gekennzeichnet. Vor allem rund um die ehemaligen nationalsozialistischen Lager setzen sich Bürgerinitiativen dafür ein, dauerhafte Gedenkstätten einzurichten. Diese sollen nicht nur ein würdiges Totengedenken ermöglichen, sondern auch ein historisch-politisches Lernen. Die Gesellschaft soll dort in einen lebendigen Austausch über ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft treten.
Illustration: »hier stand mal ein konzentrationslager« – Graffito am Ort des ehemaligen KZ Neuengamme, der damals noch mit zwei Gefängnissen überbaut ist, 1988
Anlässlich des 50. Jahrestages der nationalsozialistischen Machtübernahme findet in West-Berlin ein dezentrales Veranstaltungsprogramm statt. Koordiniert wird es vom Berliner Kulturrat, einem Zusammenschluss von Kulturverbänden und freien Projekten.
Die Veranstaltungen erstrecken sich über das ganze Jahr. Das Programmheft umfasst mehr als 130 Seiten. Ein Schwerpunkt liegt auf dem antifaschistischen Widerstand. Andere Projekte beschäftigen sich mit Geschichten von Frauen, Jugendlichen, Arbeiter:innen und Homosexuellen im Nationalsozialismus. Die Formate sind vielfältig: Von Ausstellungen über Theateraufführungen, Konzerte und Filmabende bis hin zu Antifaschistischen Stadtrundfahrten.
Das Programm wird zu einem Gutteil von kleineren Projektgruppen getragen, die konkrete Fragen haben: Stadtteil-Initiativen erforschen Alltag und Widerstand im eigenen Kiez, Frauengruppen interessieren sich für Erfahrungen von Frauen, Kirchenkreise für das Verhalten der Kirchen. Auch Migrant:innen engagieren sich. Zum Beispiel veranstaltet das Neuköllner »Türkenzentrum« einen türkisch-griechisch-kurdischen Kulturabend »im Geiste des Antifaschismus«.
Illustration: Programmheft »Zerstörung der Demokratie – Machtübergabe und Widerstand«, 1983
Die Berliner Geschichtswerkstatt ist eine der ersten Geschichtswerkstätten in der Bundesrepublik. Sie wird 1981 im Kreuzberger Mehringhof gegründet und entwickelt sich bald zu einer zentralen Triebkraft des West-Berliner Geschichtsaktivismus.
Ihr Selbstverständnis beschreiben die Gründungsmitglieder wie folgt: »Wir wollen die zum Reden bringen, die die herrschende Geschichte zum Schweigen gebracht hat. Statt unsere Geschichte weiterhin etablierten Historikern und Fachautoritäten zu überlassen, wollen wir eigene Normen und Methoden erproben, um Geschichte zu erforschen und zu vermitteln.« Im Mittelpunkt steht dabei der Alltag der »kleinen Leute«, zu dem vielfach auch Zeitzeug:innen befragt werden.
Ein Arbeitsschwerpunkt liegt auf der Zeit des Nationalsozialismus. Als 1983 an den 50. Jahrestag der nationalsozialistischen Machtübernahme erinnert wird, beteiligt sich die Berliner Geschichtswerkstatt mit Ausstellungen, Stadtrundgängen und Publikationen zu »Alltag und Widerstand im Faschismus«. In den nächsten Jahren sorgt sie mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen dafür, dass die Geschichten der Verfolgten und Ermordeten nicht in Vergessenheit geraten.
Illustration: Eröffnung des Ladenlokals in der Schöneberger Goltzstraße, 1982
Im Verein Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin schließen sich Gruppen und Einzelpersonen zusammen, die rund um den 50. Jahrestag der nationalsozialistischen Machtübernahme engagiert sind. Er wird am 10. Juni 1983 gegründet.
Der Verein will eine langfristige Perspektive für die West-Berliner Erinnerungsarbeit schaffen. Die Forschungen und Ausstellungen, die im Gedenkjahr entstanden sind, sollen in einem »Aktiven Museum« zusammengeführt werden. Dort sollen sich Macher:innen und Besucher:innen auf Augenhöhe begegnen: Diskutieren, Fragen stellen, weiterforschen. Thema soll nicht nur der Nationalsozialismus sein, sondern auch der Rechtsextremismus nach 1945. Als Standort wird das »Gestapo-Gelände« angepeilt.
In den kommenden Jahren streitet der Verein mit zahlreichen Aktionen und Beiträgen für seine Vision. Zu den Mitgliedern gehören so unterschiedliche Organisationen wie die Berliner Geschichtswerkstatt, die Internationale Liga für Menschenrechte, die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, die Arbeitsgemeinschaft ehemals verfolgter Sozialdemokraten, die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, das Werkbundarchiv und die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Verband der Antifaschisten.
Illustration: Symbolische Grundsteinlegung auf dem »Gestapo-Gelände«, 1989
Die Aktion »1933–1945 Nachgegraben« findet nicht zufällig am 5. Mai 1985 statt. Am gleichen Tag begehen Bundeskanzler Helmut Kohl und US-Präsident Ronald Reagan eine historische Versöhnungsgeste, über die schon seit Monaten gestritten wird.
Im September 1984 haben sich Kohl und der französische Präsident Mitterand über Soldatengräbern die Hände gereicht – 70 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges. Im November schlägt Kohl dem US-Präsidenten eine vergleichbare Geste zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges vor. Ursprünglich ist neben dem gemeinsamen Besuch eines Soldatenfriedhofes im rheinland-pfälzischen Bitburg auch ein Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau angedacht, der aber verworfen wird.
Im April 1985 wird bekannt, dass in Bitburg neben Soldaten der Wehrmacht auch Angehörige der Waffen-SS bestattet sind. In den USA stößt der geplante Besuch auf breite Kritik. Auch in der Bundesrepublik wird er äußerst kontrovers diskutiert. Die Grünen fordern, auf den Besuch des Soldatenfriedhofs zu verzichten. Kohl und Reagan halten an ihrem Plan fest, ergänzen ihr Programm aber kurzfristig um einen Besuch in der Gedenkstätte Bergen-Belsen.
Die Kritiker:innen sehen in der »Versöhnungsgeste« eine unzulässige »Normalisierung« der nationalsozialistischen Verbrechen. Doch es sind hauptsächlich jüdische Überlebende und ihre Angehörigen, die am 5. Mai 1985 in Bergen-Belsen und Bitburg demonstrieren. In einem »Brief an die deutsche Linke« spricht der jüdisch-amerikanische Soziologe Moishe Postone von einem »brutalen Gewaltakt gegen die Opfer des Nazismus« und äußert sich zutiefst enttäuscht darüber, dass Massendemonstrationen ausgeblieben sind.
Illustration: Bundeskanzler Helmut Kohl und US-Präsident Ronald Reagan in Bitburg, 1985
Im Rahmen der Feierstunde des Bundestages zum 40. Jahrestag des Kriegsendes hält Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU) eine Rede. Unter dem Motto »Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung« prägt er darin ein neues erinnerungspolitisches Leitbild.
Zu Beginn seiner knapp 45-minütigen Rede geht Weizsäcker ausführlich auf die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ein. Dabei benennt er auch Verbrechen, über die damals noch wenig gesprochen wird: zum Beispiel den Völkermord an den Sinti:zze und Rom:nja, den Vernichtungskrieg in Mittel- und Osteuropa oder die Verfolgung von Homosexuellen. Ausdrücklich würdigt er auch den kommunistischen Widerstand, der im konservativen Spektrum verpönt ist.
Den 8. Mai 1945 bezeichnet Weizsäcker als »Tag der Befreiung« – ein Begriff, der bisher vor allem in linken und linksliberalen Kreisen gebräuchlich ist. Zugleich deutet er den Tag als »Ende eines Irrweges deutscher Geschichte« und »Chance zum Neubeginn«. Weizsäcker lässt keinen Zweifel daran, dass diese Chance ergriffen worden sei. Im zweiten Teil der Rede beschreibt er einen erfolgreichen Lernprozess: »An die Stelle der Unfreiheit haben wir die demokratische Freiheit gesetzt.«
Weizsäcker stellt die bundesrepublikanische Gegenwart in einen scharfen Kontrast zur nationalsozialistischen Vergangenheit. Durch die Erinnerung vergewissert er sich einer demokratischen Erfolgsgeschichte. Weizsäcker bedient sich dabei auch eines Spruchs aus der jüdischen Mystik: »... und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung«. Die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen soll deutsche Identität nicht mehr bedrohen, sondern erlösen.
Illustration: »Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung« – Sonderbriefmarke der Deutschen Bundespost zum 40. Jahrestag der Pogromnacht, 1988
1990 wird die Bundesrepublik um das Gebiet der untergegangenen DDR erweitert. Das vereinte Deutschland diskutiert über seine Geschichte. Eine neue Erinnerungskultur entsteht. Die nationalsozialistische Vergangenheit gewinnt darin eine zentrale Bedeutung.
Die Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaats weckt im In- und Ausland alte Ängste. Die »Wiedervereinigung« wird von zahlreichen Angriffen auf Migrant:innen, Linke und Obdachlose begleitet. Angesichts des zunehmenden Nationalismus und Rechtsextremismus warnen manche vor einem »Vierten Reich«. Zugleich streitet die deutsche Gesellschaft über ihr zukünftiges Geschichtsbild: Welchen Stellenwert sollen die nationalsozialistischen Verbrechen darin einnehmen?
Die 1990er Jahre sind von erinnerungspolitischen Debatten geprägt. Vor allem geht es darum, in welchem Verhältnis die Erinnerung an das DDR-Unrecht zur Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen stehen soll. Nicht nur ehemals nationalsozialistisch Verfolgte und deren Nachkommen befürchten eine Gleichsetzung. Eine Enquete-Kommission des Bundestags fragt daher nach »gesamtdeutschen Formen der Erinnerung an die beiden deutschen Diktaturen und ihre Opfer«.
In ihrem Schlussbericht hält die Enquete-Kommission 1998 fest, dass die NS-Verbrechen durch die Auseinandersetzung mit dem DDR-Unrecht nicht relativiert werden dürfen. Die Bundesregierung verabschiedet 1999 eine nationale »Gedenkstättenkonzeption«, die beide historischen Unrechtskomplexe umfasst. Im gleichen Jahr beschließt der Bundestag nach langjährigen Diskussionen in der deutschen Öffentlichkeit den Bau eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas inmitten der neuen Hauptstadt Berlin.
Illustration: Mit dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas wird die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen im Zentrum des deutschen Symbolhaushaltes verankert, 2005
In der Politik wird die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen seit den späten 1990er Jahren nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt. Doch mit dem Einzug der AfD in die Parlamente gerät der vermeintliche »Erinnerungskonsens« ins Wanken.
Für die extreme Rechte ist die kritische Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen seit jeher ein »Schuldkult«, der einer positiven nationalen Identität im Wege steht. Mit der AfD entsteht in den in den 2010er Jahren eine politische Kraft, die sich zunehmend rechtsextremer Argumentationsmuster bedient. Mit ihrem flächendeckenden Einzug in die Parlamente verändert sich die politische Kultur der Bundesrepublik grundlegend.
In ihren Wahlprogrammen wendet sich die Partei nicht ausdrücklich gegen die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen. Sie fordert, sogenannte »Höhepunkte« der deutschen Geschichte stärker zu betonen. Was das bedeutet, stellt der damalige Parteivorsitzende Alexander Gauland 2018 klar: »Ja, wir bekennen uns zu unserer Verantwortung für die zwölf Jahre. Aber, liebe Freunde, Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in unserer über 1000-jährigen Geschichte«.
Nicht wenige Funktionär:innen schlagen noch weitaus radikalere Töne an. Die niedersächsische AfD fordert 2016 in einer Pressemitteilung, »endlich diesen irren Schuldkult aus Deutschland zu verbannen«. Der Thüringer Parteivorsitzende Björn Höcke spricht im Jahr darauf von einer »dämlichen Bewältigungspolitik«: »Wir brauchen nichts anderes als eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad!«
Illustration: Transparent auf einer Demonstration gegen den Bau des Holocaust-Mahnmals vor dem Brandenburger Tor, Januar 2000
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